Die Critical Mass in Zürich
Leander Lelouvier, 21.03.2020
Zürichs Hardbrücke ist die meistbefahrene innerstädtische Strasse der Schweiz. Auf ihren vier Spuren verkehren täglich rund 70‘000 motorisierte Fahrzeuge. Die Hardbrücke mit dem Fahrrad zu überqueren, ohne sich um Autos sorgen zu müssen, das klingt schon nahezu märchenhaft.
Einmal im Monat kann man in Zürich aber genau das erleben. Und nicht nur auf der Hardbrücke: Kreuz und quer durch die ganze Stadt wandert ein langer Zug an FahrradfahrerInnen, die sich die "Critical Mass (CM)" nennen. Das sind jeweils Hunderte von Menschen auf ihren Zweirädern. Öfters sind es sogar mehr als Eintausend. Dabei wird nicht nur auf den knappen Fahrradstreifen gefahren, sondern die gesamte Strasse wird eingenommen. Damit der Zug sich während der Fahrt nicht teilt, werden an Kreuzungen alle einfahrenden Autos blockiert und rote Ampeln ignoriert. So bleibt die gesamte Masse beisammen. Trotzdem ist die Aktion weder illegal, noch benötigt sie eine Voranmeldung oder Bewilligung. Eine Handvoll StadtpolizistInnen fahren sogar mit, um die Sicherheit der Beteiligten zu garantieren. Wie kommt es zu so etwas?
Die Bewegung hat ihren Anfang im San Francisco der 1990er Jahre. Als Reaktion auf die Priorisierung des Autoverkehrs wollte man mit der CM ein Stück öffentlichen Lebensraum, die Strasse, für kurze Zeit zurückerobern. Das Grundkonzept: Alleine sind Fahrradfahrer konstant einer hohen Unfallgefahr ausgesetzt. Sobald man aber in grösseren Gruppen fährt und die sogenannte "kritische Masse" überschreitet, ist die Sicherheit jedes Einzelnen durch die Masse garantiert. Mit diesem einfachen Konzept ist die CM zu einer weltweiten Bewegung gewachsen. In Zürich hat 1997 der erste Umzug stattgefunden.
Das Besondere an der CM ist, dass weder Verantwortliche noch irgendeine zentralisierte Organisation für die Bewegung stehen. Wie das funktionieren soll, versteht man, wenn man eine CM-Aktion in Zürich beobachtet. Die Route wird nicht im Voraus geplant, alleine Uhrzeit und Treffpunkt sind vorgegeben. Wer gerade zuvorderst fährt, der entscheidet wohin es geht und die Masse folgt. Das macht die CM zu einem spontanen Verkehrsaufkommen, und somit nicht zu einer Demo. "Wir stören den Verkehr nicht, wir sind der Verkehr", ist die Devise. Dadurch ist die Bewegung auch apolitisch. Trotzdem ist spürbar wie die CM, in Zeiten der Klimajugend, an Bedeutung gewinnt. Fahrradfahren als klimafreundliche Verkehrsalternative bewegt viele junge Menschen dazu, jeden Monat an der Veranstaltung teilzunehmen. So hat die Zahl der Teilnehmenden im letzten Jahr rasant zugenommen. Dieses märchenhafte Gefühl, wenn man mit dem Fahrrad sorglos über die Hardbrücke flanieren kann, soll uns erinnern: Verkehr geht auch anders.